In diesem Jahr (2022) hat das Magazin DER SPIEGEL zu seinem 75-jährigen Jubiläum einen Artikel mit dem Titel „Welcher SPIEGEL lag am Kiosk, als Sie auf die Welt kamen?“ in seiner Onlineausgabe veröffentlicht.
Unter den fast 4000 gedruckten Ausgaben seit 1947 befindet sich auch ein Exemplar, die Nr. 21 vom 23. Mai 1999, an dessen Titelbildgestaltung ich, mit der Unterstützung meines damaligen Kompagnons HESH, in Form eines Wandgemäldes mitgewirkt habe.
Gewünscht wurde die Gestaltung einer Wand, möglichst die einer Kirche, in einer stilistischen Mischung aus Graffiti-Style Writing und klassischer Malerei in der Ästhetik eines Michelangelo.
Nachdem ich meinen Entwurf eingereicht habe, und dieser zu meiner grossen Überraschung angenommen wurde, bekam ich eine Einladung in das alte SPIEGEL-Hochhaus zur gegenseitigen Beschnupperung und um alles weitere zu besprechen.
Das Ergebnis, für welches wir nur 2 Tage für die Umsetzung hatten und daher vom Grafiker der Titelbildredaktion des SPIEGEL partiell nachbearbeitet wurde, lässt sich unter dem folgenden Link betrachten.
Hier auch noch einmal der Link zur Hausmitteilung derselben Ausgabe mit einer Erwähnung meiner Person plus Action-Foto. Damals noch unter meinem legalen Alias „Miguel“ (Letzter Absatz):
Anekdoten, frei aus der Erinnerung, zum obigen Beitrag:
Anekdote (1)
Der Herausgeber und der Sprüher
Nachdem ich das Sicherheits-Check-In am Eingang des SPIEGEL-Gebäudes mit einem Gefühl der Anspannung hinter mich gebracht hatte, denn dies kannte ich bisher nur von Flughäfen oder der erkennungsdienstlichen Behandlung durch die Polizei, durfte ich die heiligen Hallen des SPIEGEL betreten.
Es erfolgte eine kurze Führung durch ein paar Räumlichkeiten die ich wie in Halbtrance erlebte, da sich in meinem Kopf inzwischen ein News-Ticker gebildet hatte, der mit Schlagzeilen wie:
+++ Vorsicht bei Fragen! Das sind Profis +++
oder
+++ Nehmen die Dich überhaupt ernst? +++
in Dauerschleife an der Innenseite meiner Schädeldecke um mein Hirn rotierte.
Schliesslich wurde ich in ein Büro mit beeindruckender Aussicht geführt in dem sich, nach Übertreten der Türschwelle, die Zeit plötzlich für ein paar Sekunden in Bullet-Time zu bewegen schien. Mein Blick fokussierte sich auf eine Person deren Ausstrahlungskraft den gesamten Raum durchdrang, was meine innere Anspannung noch verstärkte und die restliche Umgebung wie durch einen fluchtpunktbasiertem Weichzeichnungsfilter erscheinen liess.
Das Subjekt mit der Wirkung eines Präsenzpanzers setzte sich direkt in Bewegung. Der in meine Richtung gedrehte Geschützturm, aus dem ein seitengescheitelter Kopf herauslugte und an dessen Kanonenrohrende merkwürdigerweise eine ausgestreckte Hand montiert war, feuerte seine erste Salve ab:
„Ah, der Writer!“
Schlagartig lief die Zeit wieder im normalen Tempo. Ich nahm die Hand, die glücklicherweise doch zu einem Arm gehörte.
Der nächste Satz der übercharismatischen Person verwandelte mich vom inneren Zustand eines Delinquenten wieder zurück in den kaltschnäuzigen, baschen Barmbeker Jung.
Er: „Mir war bis dato nicht bewusst, dass Graffiti-Sprayer so gut zeichnen können.“
Ich: „Mir war gar nicht bewusst, dass Journalisten Szenejargon beherrschen.“
Er: „Ich nehme meinen Job ernst.“
Ich: „Ich auch.“
Beide grinsen.
Ich hatte Rudolf Augstein kennengelernt.
Anekdote (2)
Narrenhände bemalen Kirchenwände
Das Büro der Titelbildredaktion des SPIEGEL sah enttäuschend aufgeräumt aus. Natürlich klebte hier und da etwas, oder lag gestapelt irgendwo herum. Aber, in meiner Vorstellung hätte das Büro eines Journalisten eher wie eine Szene aus einem amerikanischen Schwarz-Weiss-Film aussehen müssen. Zerknitterte Anzüge, verqualmte Luft, verschwitzte Reporter mit Kippe im Mundwinkel, Recherche-Chaos und so … ich war ja noch nie innerhalb eines Zeitungsgebäudes. Die Realität war so ernüchternd.
Das stand ich nun mit dem Chefredakteur Stefan Aust und dem Titelbildgrafiker (Ich glaube der hat nichts anderes gemacht als Titelbilder zu gestalten. Damals unfassbar für mich, dass man allein damit seinen Lebensunterhalt verdienen konnte) und es stellte sich die Frage woher man auf die Schnelle eine Kirchenwand bekäme auf der man ein Graffito für das Titelbild der kommenden Ausgabe sprühen könnte.
Nachdem ich nun schon jahrelang auf der Suche nach einer Übungswand gegen Wände gerannt war, dachte ich mir: „Na ja, das kann was werden. Eine legale Wand, und dann auch noch von der Kirche. Haa-haa. Viel Glück dabei …“.
Die Hand des Chefredakteurs ging zum Hörer, wählte eine interne Nummer, und schilderte in knappen Sätzen einem Mitarbeiter was er a.s.a.p benötige. Nicht einmal eine halbe Stunde später kam der direkte Rückruf eines Kirchenfunktionärs der sichtlich begeistert von der Idee war. Diese erste Erfahrung über die Wichtigkeit eines gut ausgebauten Netzwerks und der Nützlichkeit von Vitamin B(eziehungen) war mir eine Lehre. Obwohl ich mich über die Chancen eine solche Wand zu organisieren ausgeschwiegen hatte, kam ich mir vor wie ein Trottel.
Danach dauerte es nicht lang, und meine Narrenhand bemalte eine Kirchenwand.
Anekdote (3)
Der Pfaffe und das Bier
Als mein Kollege HESH, der mich dabei unterstützen sollte die vom SPIEGEL organisierte Kirchenwand für eines ihrer Titelbilder zu gestalten, und ich vor besagter Kirche auftauchten, stiessen wir auf einen Mann, nicht viel älter als wir es waren, der in T-Shirt und Flecktarn-Cargo-Hose an der Strasse stand.
Irgendwie wirkte er auf mich wie der Hausmeister, also, ein gleichgepoltes Malocher-Kind wie ich eines war, und ich fragte ihn in gewohnt baschen Barmbeker Charme wo ich denn den Pfaffen dieser Kirche antreffen könne. Wir wären die Sprayer vom SPIEGEL die die Wand aufhübschen sollen. Er wisse Bescheid.
Zu unserer Überraschung erwiderte er mit einem breiten Grinsen: „Tja, das wäre wohl ich.“
Wir waren baff. Unsere Kinnläden schoben sich noch eine Etage tiefer als er uns fragte ob wir denn Bier trinken würden. Was wir selbstverständlich bejahten. Daraufhin zeigte er uns die zu bemalende Wand und wo wir uns breit machen konnten, und ging mit den Worten: „Ich gehe mal das Bier holen!“.
HESH und ich schauten uns an, zuckten mit den Schultern und packten aus. Kurze Zeit kam der Pfarrer zurück. Mit einem Kasten Bier in den Händen. Er entnahm drei Flaschen, köpfte sie mit einem Feuerzeug und reichte sie uns rüber. Dann setzte er sich auf den Kasten und fragte: „So, und nu‘ zeigt mal was ihr hier so malen wollt.“
Um es kurz zu machen. Es dauerte schon ein paar Bierchen bis wir überhaupt anfingen zu malen. Der Kirchenonkel stellte sich als sehr unterhaltsam und überhaupt nicht nachtragend bezüglich meiner respektlosen Begrüssung heraus.
Jedenfalls war mein Eindruck, dass der Mann das Ding mit dem Verzeihen verinnerlicht hatte.
Ach ja, … da war ja noch was … glücklich schien er mit dem Gemälde auch.
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